“The American Dream?” von Lisa (USA 2009)

Dies ist eine wahre Geschichte. Aus Gründen der Privatsphäre wurden alle Namen geändert.


Mit gepackten Koffern und Visum in der Hand stand ich frühmorgens im Juli 2009 am Flughafen in Wien, um in das Abenteuer ‘Au Pair in den USA’ zu starten. Freunde und Familie wurden gedrückt und geküsst, Abschiedsworte gemurmelt und Tränen weggewischt. Den Blick nach vorne gerichtet stieg ich ins Flugzeug. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich auf mich allein gestellt sein. Alles neu, alle Türen offen, alle Wege beschreitbar.

In New York angekommen musste ich für einen Crashkurs in Sachen Kindererziehung in die Au Pair Schule. Die meisten Au Pairs, die ich dort kennenlernte, hatten Gastfamilien an der Ostküste. Ich wurde schwer beneidet um meine Gastfamilie, die ihren Wohnsitz in Los Angeles hatte.

Während dieser einen Woche telefonierte ich einige Male mit meinen Gasteltern Judy und dem gebürtigen Schweizer Ralf, auf deren Kinder, Brian (10 Jahre) und Shelly (7 Jahre), ich bald aufpassen sollte. Vor jedem Telefonat war ich wahnsinnig nervös. Teils, weil ich trotz jahrelangem Englischunterricht nur sehr gebrochen Englisch sprach, und teils, weil ich bei jedem Gespräch einen guten Eindruck hinterlassen wollte.

Nach dieser ersten intensiven Woche mit starkem Heimweh und den vielen Lerneinheiten sowie Schulungen im Umgang mit Menschen anderer Kulturen hob der Flieger Richtung L.A. ab, wo mich meine Gasteltern am Flughafen herzlich empfingen. Auch die Kinder waren mitgekommen und begrüßten mich aufgeregt. Ich wurde betrachtet, befragt, umarmt und schließlich zum Auto eskortiert. Auf der Fahrt nach Redondo Beach wurde ich auch noch auf ein Eis eingeladen. Im neuen Heim angekommen wurden mir die Räume gezeigt und die Hunde vorgestellt, für die ich ab jetzt ebenfalls verantwortlich sein würde. Mein Zimmer war sehr schön und mit einem großen, gemütlich aussehenden Bett ausgestattet, auf dem Blumen und gemalte Zeichnungen der Kinder lagen. Ich war sehr glücklich, so willkommen geheißen zu werden. Der perfekte Start.

Die Wochen vergingen sehr schnell. Ich fand mich bald zurecht und hatte sogar ein eigenes Auto. Mein Tagesablauf wurde routiniert: Morgens weckte ich die Kinder, bereitete das Frühstück zu, machte die Sandwiches für die Schule, weckte Shelly noch einmal, da sie ein richtiger Morgenmuffel war, und brachte die Kinder in die Schule. Danach fütterte ich die Hunde und führte sie aus. Das Haus wurde geputzt, die Wäsche gemacht, das Geschirr gespült. Mittags holte ich die Kinder wieder ab und erledigte die Hausaufgaben mit ihnen. Den restlichen Tag hatte ich frei und konnte mich mit Au Pair Freunden treffen.

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Als sich alle aneinander gewöhnt hatten und sich niemand mehr Mühe gab, einen guten Eindruck zu hinterlassen, fiel mir auf, dass sich meine Gastmutter zusehends von mir abwandte. Ralf sprach Deutsch mit mir, wenn wir untereinander waren und er versicherte mir, dass seine Frau nur eine schwere Phase habe, die aber bald wieder vorbei gehen würde. Mir war es sehr wichtig, dies zu hören, da ich nun die Gewissheit hatte, dass sich Judy tatsächlich anders mir gegenüber verhielt. Warum, konnte mir niemand sagen.

Auch die Kinder veränderten sich. Nichts, was ich tat, war gut genug. Ich war recht überrascht, weil es in meinen Augen nicht ersichtlich war, was ich genau falsch machte oder was der ausschlaggebende Punkt für diese Wendung war. Aber nicht nur mir gegenüber war Judy launisch, auch ihren Kindern gegenüber. Ich fühlte mich in dieser Zeit sehr ungerecht behandelt.

Ich bemühte mich, wieder einen guten Draht zur Familie zu bekommen. Am Wochenende putzte ich das Haus anstatt mit meinen Freundinnen am Strand zu liegen. Ich bereitete ein Dinner zu, das nie gegessen wurde, weil die Familie an diesem Abend spontan zum Essen ausging – ohne mich, versteht sich. Ich überraschte Brian an seinem Geburtstag mit einem selbstgebastelten Brettspiel und begleitete Shelly zu jedem Tanztraining. Schließlich wurde der Kontakt zu den Kindern wieder besser, was mich sehr freudig stimmte, weil deren Betreuung ja auch meine Hauptaufgabe war.

In einem Gespräch erzählten mir die Kinder dann, dass Judy ihnen gesagt hätte, dass sie mir das Leben absichtlich schwer machen sollten. Ich verstand die Welt nicht mehr.

Ich kontaktierte das Au Pair, das vor mir in dieser Familie war, und erfuhr, dass ich nun schon das sechste Au Pair in einem Zeitraum von nur zwei Jahren war. Mir fiel ein Stein vom Herzen, weil ich in der Zwischenzeit an meinen Fähigkeiten und an meiner Person gezweifelt hatte. Auch meine Vorgängerinnen wurden anfangs von einer fröhlichen Familie empfangen, ehe sich die Stimmung zusehends ins Negative wandte. Von nun an war ich nur noch mit halbem Herzen bei der Sache. Für mich ergab das alles keinen Sinn. Ich habe in dieser Zeit sehr oft mit meinen Lieben daheim geskyped und meine Mutter hat mich ermutigt durchzuhalten. Am Liebsten hätte ich jedoch das Ganze abgebrochen und wäre nach Hause geflogen.

Eines morgens eskalierte die Situation. Als ich die Kinder zur Schule bringen wollte, hörte ich plötzlich, dass eine Tür im oberen Stock zugeschlagen wurde. Es folgten wütende Schritte auf dem Gang. Dann hörte ich Shelly schreien und sah, dass sie von Judy an ihren Haaren die Treppe heruntergezogen wurde. Die Situation wurde sehr hektisch. Die Hunde begannen zu bellen, Brian redete auf seine Mutter ein und Shelly schrie. Judy brüllte uns an, dass wir zu spät seien. Sie befahl Shelly mit dem Weinen aufzuhören, doch als sich Shelly nicht beruhigen konnte, bekam sie eine schallende Ohrfeige. Sie warf uns alle hinaus. Wie gelähmt fuhr ich die Kinder zur Schule. Den ganzen Weg lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Auf Shellys Gesicht war der Handabdruck ihrer Mutter deutlich zu sehen. Wie sie das in der Schule erklären würde, war mir ein Rätsel. Meine Hände zitterten und als die Kinder ausgestiegen und im Schulgebäude verschwunden waren, rief ich meine Au Pair-Agentur an und bat um eine Versetzung (Rematch). Wohin war mir egal.

Ich musste nun natürlich auch meiner Gastmutter Bescheid geben, die daraufhin in ihr Zimmer stürmte und die Tür zuschlug. Abends setzte sich Judy zu mir in den kleinen Garten. Wir besprachen die Lage und die Vorkommnisse, vor allem aber die Missverständnisse. In dieser offenen Atmosphäre traute ich mich sogar, sie auf den Vorfall von heute morgen anzusprechen. Sie stand auf und ging wieder ins Haus, ohne ein Wort zu sagen. Es gab keine Rechtfertigung und keine Erklärung.

Einige Tage später kam meine Betreuerin der Agentur. Die physische Gewalt, die ich miterlebt habe, wurde gekonnt von sämtlichen Familienmitgliedern als Hirngespinst abgetan. Ich hätte nur einen Grund gebraucht, um für einen Wechsel in Frage zu kommen, hieß es. Als Lügnerin dargestellt zu werden, war nun auch nichts Neues mehr für mich. Im Gespräch wurde klar, dass die Wogen nicht zu glätten waren. Ich bekam die Chance, eine neue Gastfamilie zu suchen. Mit der Aussicht auf Besserung wollte ich nicht abbrechen. Neue Chance, neues Glück, dachte ich mir.

Eine Frau namens Carol, die für die Au Pair-Agentur arbeitete, meldete sich bei mir. Sie wohnte in Burbank, Kalifornien und hatte von meiner Situation gehört. Glücklicherweise war sie gerade auf der Suche nach einem Au Pair für ihren 2-jährigen Sohn Finn. Ich überlegte nicht lange, nahm das Angebot an, gab meiner Agentur und dann auch meiner Gastfamilie Bescheid. Eigenartigerweise war Judy traurig, als ich ihr von dieser Neuigkeit erzählte. Aber vielleicht hatte sie die Schauspielerei auch einfach in den Genen.

Kurz vor Weihnachten durfte ich zu meiner neuen Gastfamilie. Der Abschied verlief auf beiden Seiten ohne große Emotionen. Umso herzlicher wurde ich von Carol empfangen, die mir die kleine Wohnung, die Gegend, Restaurants und die Strände zeigte. Wir wurden in kürzester Zeit sehr gute Freunde. Mit Finn hatte ich den Jackpot erwischt. Er war sehr aufgeschlossen und nach einigen Tagen war es kein Problem mehr für ihn, wenn Mommy zur Arbeit ging und er den Tag mit mir verbrachte. Wir waren ständig unterwegs, zum Beispiel in Spielwarengeschäften oder bei Spongebob in den Universal Studios. Manchmal waren auch Oma und Opa (die getrennt voneinander lebten) dabei, zu denen ich ebenfalls ein gutes Verhältnis aufbaute. Abends brachte Carol Finn ins Bett und danach setzten wir uns häufig auf den Balkon, genossen die Ruhe und redeten über Alles und Nichts.

An den Wochenenden unternahmen wir häufig etwas zu Dritt. Ich kam mir immer erwünscht vor. Natürlich gab es auch mal Dinge, über die wir uns stritten, oder auch mal Kritik, die ich einstecken musste, aber ich war in dieser Zeit überglücklich, diese Familie gefunden zu haben.

Eines Tages im Februar kam ich mit Finn von einem Ausflug in den Zoo nach Hause, als wir Carol weinend im Wohnzimmer vorfanden. Sie nahm mir Finn wortlos ab, setzte sich auf die Couch und weinte weiter. Ich wusste nicht genau, was ich tun sollte, stand einige Minuten da und verkroch mich dann in mein Zimmer. Als ich sie abends immer noch weinen hörte, machte ich mir langsam Sorgen. Ich ging ins Wohnzimmer zurück. Finn saß vor dem Fernseher und schaute seine Lieblingsserie, während Carol am Boden lag und weinte. Ich wollte zu ihr gehen, fragen, was los sei, sie in die Arme nehmen, so wie sie es immer bei mir gemacht hatte, wenn ich schreckliches Heimweh hatte. Sie bat mich zu verschwinden und das tat ich dann auch. Ich respektierte ihr Verlangen nach Ruhe und hoffte, dass der nächste Tag besser werden würde.

Die nächsten beiden Tage hörte sie nicht auf zu weinen. Ich machte mir langsam Sorgen um Finn, mit dem sie sich in ihrem Schlafzimmer verschanzt hatte. Ich rief Carols Vater an, der sofort vorbeikam und Finn aus dem Schlafzimmer holte. Er bat mich, auf den Kleinen aufzupassen, da Carol eine schwere Zeit durchmache  und ein wenig Ruhe bräuchte. Das tat ich dann auch. Ich sah sie nur, wenn ich Finn abends zu ihr ins Bett legte und ihn morgens wieder aus ihrem Bett nahm.

Dann kam sie eines Tages aus dem Zimmer. Sie wirkte als hätte sie Psychopharmaka genommen. Das, was sie sprach, war sehr wirr und mir tat vor allem Finn Leid, der nicht verstand, warum Mommy so komische Sachen sagte oder plötzlich zu lachen begann. Er orientierte sich immer mehr an mir. Von der Besserung, die Carols Dad versprochen hatte, war nichts zu sehen. Oft begann sie ohne Vorwarnung zu weinen oder zu lachen, manchmal rannte sie nackt durch die Wohnung, und was anfangs befremdlich war, wurde nach und nach irgendwie Normalität.

Angst bekam ich erst, als ich eines Sonntags ausgehen wollte und die Haustür verschlossen war. Carol erklärte mir, dass sie meine Sklavin sei und ich als ihre “Herrin” ohne sie keinen Schritt tun dürfe. Als ich daraufhin Grandpa um Hilfe anrufen wollte, nahm sie mir mein Handy kurzerhand ab. Aus Panik rannte ich in mein Zimmer, woraufhin sie mir auch meinen Zimmerschlüssel abnahm, um mich besser im Auge zu haben. Zu meiner eigenen Sicherheit, wie sie betonte.

In den nächsten Tagen traute ich mich nur selten aus meinem Zimmer und versuchte, mich mit Fernsehen abzulenken. Meiner Mama schrieb ich in dieser Zeit nicht, da ich sie nicht beunruhigen wollte und sie ja doch nichts ausrichten konnte. Außerdem war die Gefahr im Moment rein psychischer Natur, das wusste ich. Als sie herausfand, dass ich nachts auf dem Balkon rauchte, erlaubte sie mir das Rauchen nur noch in ihrem Beisein, wobei ich jedes Mal eine Zigarette an sie abgeben musste. Die verpackte sie dann in einen Ziploc Beutel und verstaute sie im Gefrierfach. Warum, weiß ich bis heute nicht.

Nach und nach kam ich dann öfters aus dem Zimmer, wenn ich Carol im Badezimmer hörte. Ich weiß nicht genau, was sie gemacht hat, aber es hat meistens eine Stunde gedauert. In dieser Zeit konnte ich mich um Finn kümmern, dem es zu diesem Zeitpunkt an nichts fehlte. Er durfte seine Sendungen schauen, Fläschen trinken und essen, was er wollte. Ab und zu kontrollierte ich, ob die Haustür noch verschlossen war. Sie war es jedes Mal.

Eines Tages war sie wieder bester Laune und wollte auswärts Essen. Für mich bat sich so die ideale Gelegenheit abzuhauen und Hilfe zu holen, denn Oma wohnte ganz in der Nähe. Als ich dann sah, dass Carol ein Hundehalsband samt Leine um den Hals trug, ahnte ich Böses. Ich musste ihr versprechen, die Leine fest zu halten, weil sie sonst mit Finn auf die Straße rennen würde, wie ein Hund es machen würde. Ich versprach es ihr und wir gingen los. Allerdings kamen wir nicht weit, denn auf halbem Weg mussten wir umkehren, da Carol meinte, verfolgt zu werden. Nun wurde mir der Ernst der Lage bewusst: Carol war krank und würde es bleiben, wenn ihr nicht geholfen werden würde.

Als sie mich dann einmal dabei erwischte, wie ich Finn die Windel wechseln wollte, weil sie es anscheinend nicht mehr für nötig hielt, wurde sie sehr wütend. Sie verbot es mir. Ich tat es trotzdem, heimlich.

Eines Morgens zeigte der Rauchmelder in meinem Zimmer mit lautem Piepen an, dass die Batterie leer war. Carol warnte mich daraufhin, dass dort oben eine Bombe wäre und verbot mir, den Rauchmelder auch nur anzufassen. Ich tat wie mir befohlen, denn zu diesem Zeitpunkt war ich psychisch bereits sehr angeschlagen. Ich hatte Angst, und wenn sie mir etwas verbot, hielt ich mich daran, denn ich wusste nicht, was die Konsequenzen sein würden. Nachts konnte ich schwer schlafen, weil das Piepsen sehr durchdringlich war, aber auch daran gewöhnte ich mich.

Als Finn sich die Nase am Badezimmerschrank blutig schlug, verließen wir das einzige Mal das Haus. Obwohl Carol ein funktionstüchtiges Auto hatte, setzte sie den Kleinen in den Kinderwagen und wir marschierten zu Fuß zum Krankenhaus. Dabei musste ich den Kinderwagen mit meiner Hand stets festhalten. Wir waren dreieinhalb Stunden unterwegs und erreichten das Krankenhaus mitten in der Nacht, wo man keine weiteren Verletzungen feststellte und uns wieder nach Hause schickte. Irgendwann morgens kamen wir Heim.

Zwei Tage lang hatte sie sich daraufhin mit Finn im Zimmer verschanzt. Ich begab mich in der Zwischenzeit auf Schlüsselsuche. Diesen fand ich leider nicht, dafür aber ein Handy, mit dem ich Grandpa anrief. Er war auf Urlaub und hatte sich deshalb noch keine Sorgen um uns gemacht. Er kam mit einem Ersatzschlüssel, ich öffnete die Tür und erzählte ihm alles.

Er erklärte mir, dass Carol eine bipolare Störung hatte. Sie hatte offenbar ihre Medikamente abgesetzt, die sie bis vor kurzem noch genommen hatte. Grandpa gab mir ein Handy, dass ich verstecken sollte, mit dem ich ihn aber jederzeit kontaktieren konnte. Er wollte sich mit der Polizei besprechen und Carol mit einem Team in eine Spezialklinik bringen lassen. Grandpa wollte sich um den Ablauf kümmern und mich einweihen, sobald alles bereit wäre.

Zwei Tage später rief er an. Das Team wäre bereit und ich solle die Tür leise aufschließen. Grandpa kam zur Tür rein, sagte mir, dass ich auf sein Zeichen den kleinen Finn nehmen und so schnell wie möglich hinaus laufen soll. Das Zeichen war dann so unmissverständlich, dass ich sofort reagierte. Als ich die Schlafzimmertür aufriss, bot sich mir ein schreckliches Bild. Grandpa lag auf Carol, die sich heftig wehrte. Das Zimmer war zugemüllt. Überall lagen Kleidungsstücke, Kartons, Essensreste und Windeln verstreut. Ich musste mich schnell fassen, nahm den weinenden Finn an mich und blickte dabei kurz in das hasserfüllte Gesicht Carols, die, nachdem sie begriff, dass ich mit ihrem Sohn flüchten wollte, Grandpa in die Hand biss. Beim Hinausrennen sah ich vier Personen, die relativ gelassen auf die Wohnung zusteuerten, die ich soeben verlassen hatte. Dabei handelte es sich wohl um das klinische Team, das sich nun um Carol kümmern sollte.

Draußen wartete bereits Grandma in ihrem Wagen. Wir fuhren ein Stück, blieben dann stehen, um Finn nach hinten in den Kindersitz zu setzen. Er weinte bitterlich, war verdreckt und hatte eine Windel an, die bestimmt länger nicht mehr gewechselt worden war. Ich beruhigte ihn, indem ich mit Grandma gemeinsam so tat, als wäre das ein Wettrennen gewesen, so wie es die “Tschu-tschu-Züge” immer machen, und wir hätten das Rennen gewonnen.

Grandma brachte uns in ihr Haus. Finn fand im Spielzimmer gleich Züge und war fortan beschäftigt. Wir erfuhren dann, dass Carol durch den Hinterhof abgehauen war, nachdem sie Grandpa niedergerungen hatte. Grandpa war im Krankenhaus, da er Herzprobleme bekommen hatte. Carol war verschwunden. Ich fragte mich, welche Aufgabe eigentlich dieses Team gehabt hatte.

Als Grandma aufbrechen wollte, um Kleidung und Windeln zu kaufen, bat ich sie, hier zu bleiben, weil ich Angst vor einem plötzlichen Auftauchen Carols hatte. Sie fuhr trotzdem weg mit dem Versprechen, bald wieder hier zu sein. Um mich halbwegs in Sicherheit zu wägen, schob ich den Schrank vor die Tür und zog die Vorhänge zu, sodass man von draußen nicht hineinsehen konnte. Als Grandma zurückkam, erzählte sie mir, dass Carol auf dem Weg zu Grandmas Haus aufgegriffen worden war. Grandpa wäre noch im Krankenhaus, aber es gehe ihm schon besser. Er war wohl zu früh in die Wohnung gestürmt, daher war das Team noch nicht bereit gewesen. Der verständigten Polizei gelang es schließlich, Carol ausfindig zu machen.

Die darauffolgenden Tage blieben wir bei Grandma. Carol war in der Zwischenzeit in eine Anstalt eingeliefert worden. Wir vereinbarten, dass ich mit Finn in Carols Wohnung ziehen sollte, wo mich alle Familienmitglieder tatkräftig unterstützen würden.

Es war sehr eigenartig, als wir die Wohnung betraten. Komischerweise musste ich erst gründlich nachsehen, ob Carol wirklich nicht da war. Finn suchte ebenfalls nach ihr, aber aus anderen Gründen. Er vermisste sie.

Die Wohnung wurde erst einmal gründlich durchgewischt und aufgeräumt. Jetzt, wo die Gefahr gebannt war, konnte ich aufrichtig zornig sein. Auch Traurigkeit kam dazu. Ich hatte das eigenartige Gefühl, den Tod der eigentlichen Carol zu betrauern, die ich als Freundin, liebevolle Mutter und lustige Chaotin kennengelernt hatte. Bald waren diese Gefühle dahin, denn ich hatte eine neue Aufgabe übernommen. Ich war Ersatzmutter geworden. Unverhofft und unvermittelt.

Einige Tage später wurden wir ohne Vorwarnung von aufgeregten Großeltern abgeholt. Sie sagten mir, dass wir nun zur Polizei fuhren, was mich ein wenig nervös machte. Im Polizeirevier wurden wir alle auf unterschiedliche Räume aufgeteilt. Finn und ich wurden in einen Verhörraum gebracht. Eine Polizistin kam in den Raum und sprach mit Finn, der auf meinem Schoß saß. Offensichtlich wollte sie ihn mitnehmen, was der Kleine sich aber nicht einreden ließ. Ich wollte der Dame helfen und ging mit Finn nach draußen in die Spielecke. Doch für keines der Spielzeuge war er zu begeistern. Er klammerte sich an mich, wahrscheinlich aus Angst, mich auch noch zu verlieren. So führten wir das Verhör mit Finn auf meinem Schoß.

Ich erfuhr, dass ich wegen Kindesentführung belangt werden konnte, und dass die Sorgerechtsentscheidung aufgrund der Unzurechnungsfähigkeit der Erziehungsberechtigten anstand. Es wurden viele Dinge besprochen und die Polizisten verließen oft für längere Zeit den Raum, kamen dann wieder mit neuen Fragen zurück. Irgendwann durfte ich gehen, denn der Tatbestand habe sich aufgelöst, so wurde mir gesagt.

Grandpa erklärte mir im Auto, dass das klinische Team ebenfalls befragt worden war. Offenbar konnten wir nicht belangt werden, weil wir nach deren Anweisungen gehandelt und Finn deswegen aus der Situation genommen hätten.

Natürlich blieb das Ganze auch meiner Agentur nicht verborgen, da Carol ja für diese arbeitete. Ich wurde von einer Mitarbeiterin kontaktiert, mit der ich mich in einem Café ganz in der Nähe verabredete. Finn blieb zwischenzeitlich bei Grandpa. Ich war sehr unschlüssig darüber, was ich ihr erzählen sollte bzw. konnte.

Die Dame der Agentur stellte sich als Myra vor, die einen sympathischen Eindruck auf mich machte. Es gäbe nun verschiedene Optionen, erklärte sie mir. Ich erzählte Myra, was alles passiert war und schilderte die aktuelle Lage. Ich versicherte ihr, vorerst bei Finn bleiben zu wollen, da er sich in den letzten zwei Wochen so sehr an mich gewöhnt hatte, dass ich kaum mehr das Zimmer verlassen konnte. Es war undenkbar, dass Finn von anderen Personen betreut wurde, Grandma und Grandpa eingeschlossen. Just in diesem Moment kam Grandpa mit Kinderwagen, in dem der schreiende Finn saß, ins Café. Finn streckte seine Arme nach mir aus, der Sicherheitsgurt wurde gelöst und ich hob Finn in meine Arme, wodurch er schlagartig mit dem Schreien aufhörte. Grandpa ließ sich, nachdem er Myra begrüßt und sich für die Störung entschuldigt hatte, erschöpft auf einen Stuhl sinken. Myra willigte ein, dass ich weiterhin Finns Au Pair bleiben konnte.

Ein Tagesplan wurde erarbeitet, in dem genau vermerkt war, wie viele Stunden Finn bei mir sein durfte, und wie oft und wie lang ein anderes Familienmitglied (Grandma, Grandpa, Tante Charlotte oder Tante Tanya) den kleinen Finn betreuen sollten. Myra wollte ein Mal pro Woche einen Kontrolltermin machen, zu denen es aber – wieso auch immer – nie kam.

Grandma und Grandpa waren sehr froh darüber, dass ich mich weiterhin um Finn kümmern durfte. Die beiden hatten ein schwieriges Verhältnis zueinander und auch  zu ihren Töchtern Charlotte und Tanya. Zudem war Grandpas Leben zusehends von seiner neuen Lebensgefährtin bestimmt, wohingegen Grandma mehrere Männerbekanntschaften pflegte. Zwar wurden wir mit Geld und Kost überhäuft, aber sie wälzten die ganze Verantwortung auf mich, eine 20-jährige Ausländerin, ab, und ließen mich und Finn im Nachhinein betrachtet ziemlich hängen, da von ihrer Seite kaum Unterstützung zu erwarten war.

Finn und ich lebten uns wieder gut ein. Nach einiger Zeit konnte er sich dann auch wieder etwas von mir lösen. An den Tagesplan, den wir gemeinsam mit Myra ausgearbeitet hatten, dachte niemand mehr. Finn war fast ständig bei mir. Das Wochenende hatte ich meistens für mich und ich genoß die Zeit, die ich nur für mich allein hatte.

Die Schwierigkeit der ersten Zeit, bestand darin, einen Rhythmus zu finden. Finn musste lernen, abends ins Bett zu gehen und morgens aufzustehen. Er gewöhnte sich die Flasche ab, fand Spaß am Zähneputzen und brauchte bald auch keine Windel mehr. Wir waren viel unterwegs und besuchten öfters Tante Tanya, die in der Nähe wohnte, verheiratet war und selbst zwei Kinder hatte, denn das Jugendamt hatte entschieden, dass Finn unter der Obhut von Tanya leben sollte.

Ab Mitte Mai durfte Carol an den Wochenenden heimfahren. Da ich nach wie vor Panik bekam, wenn ich auch nur an sie dachte, wurde vereinbart, dass ich mit Finn zu Tanya ziehen sollte. Ich war sehr traurig, da ich mich sehr an das Leben in einer eigenen Wohnung gewöhnt hatte. Aber natürlich war mir klar, dass sich Finn an das Leben bei seiner Tante gewöhnen musste. So wie es aussah, würde Carol die Vormundschaft so schnell nicht wieder bekommen.

Der Umzug erfolgte an einem Donnerstag. Trauer und Erleichterung vermischten sich zu einem undefinierbaren Gefühl, als ich Carols Wohnung verließ. Glücklicherweise ergab es sich, dass Tante Tanya mit ihrer Familie nach Hawaii flog, sodass ich mich ungestört im neuen Heim einleben und organisieren konnte.

Finn gewöhnte sich sehr schnell ans neue Heim und ich bemühte mich, den Tagesrhythmus so wenig wie möglich zu verändern. Nur manchmal beschlich mich der Gedanke an Carol, und dass sie in diesem Moment wahrscheinlich in ihrer Wohnung sitzen würde, und sich fragt, wo ihr kleiner Finn wohl ist. Ab und zu kamen Grandpa und Grandma vorbei; wir spielten Fußball im Garten und besuchten den Zoo oder das Travel Town Museum.

Eineinhalb Wochen nach dem Umzug waren wir nach wie vor alleine im Haus. Tante Tanya würde mit ihrer Familie erst in vier Tagen zurückkommen. Finn hatte sich längst an die Routine gewöhnt. Ich las ihm seine Lieblingsgeschichte vor und er schlief rasch ein. Nach ein paar Minuten vor dem Fernseher legte auch ich mich schlafen. Plötzlich wurde ich wach und sah Lichter, die durchs Fenster schienen und wieder verschwanden. Ich dachte an Einbrecher und lief zum Fenster. Mit Schrecken stellte ich fest, dass der gesamte Vorgarten mit Polizeiwagen gesäumt war und die Polizisten mit den Taschenlampen auf den Garten und auf das Haus leuchteten. Ich rief Grandma an, die zu meiner Erleichterung abhob, und bat sie, vorbeizukommen. Zügig lief ich die Treppe runter und öffnete die Tür. Der Polizeibeamte reagierte erst erstaunt und fragte mich dann, ob alles in Ordnung wäre. Er bat mich auch, dass eine Kollegin nach dem Kind schauen dürfe. Sie erklärten mir, dass eine Person, die anonym bleiben wolle, angerufen hätte, weil sich im Haus eine Kinderleiche befinden solle. Ich dachte mir im ersten Moment, dass sie sich an der Straße geirrt haben mussten, doch schlagartig wurde mir klar, wer der anonyme Anrufer sein musste. Carol würde niemals aufhören, dessen war ich mir sicher.

Die Polizistin sah nach Finn, der schlafend im Bett lag. Währenddessen war Grandma bereits da und übernahm das Reden. Die Polizisten zogen wieder ab und ich sah noch einmal nach Finn, der von dem ganzen Wirbel zum Glück nichts mitbekommen hatte.

Die restlichen Wochen bis zu meiner Abreise verliefen entspannt. Finn wurde im Kindergarten angemeldet. Zudem bekam er sein eigenes Zimmer und viele neue Spielsachen. Nachdem ich nun auch wieder mehr Freizeit hatte, fand ich neue Freunde. Tante Tanya nahm mich mit auf Konzerte und andere Festivitäten. Nicht nur einmal beteuerte sie mir, wie dankbar sie wäre.

Langsam entwöhnten wir Finn von mir, was schwer, aber notwendig war. Zwei Wochen vor meiner Abreise zeichnete ich mit ihm eine Landkarte und erklärte ihm, dass mich ein Flugzeug nach Hause bringen würde. Er fand das alles sehr spannend und verstand nicht so richtig, was das zu bedeuten hatte, aber es war mir sehr wichtig, es ihm wenigstens gesagt zu haben.

Am Tag der Abreise standen alle schon früh im Flur. Ich versuchte, nicht in Tränen auszubrechen, als Finn mich fragte, ob wir heute in den Zoo gehen könnten. Ich verneinte und erzählte noch einmal von dem großen Flugzeug, das mich nach Hause bringen sollte. Damit war die Sache für ihn in Ordnung. Zum Abschied gab ich ihm einen Kuss auf seine blonden Haare und er schenkte mir sein schönstes Lächeln. Mit diesem Bild vor Augen stieg ich ins Flugzeug und ließ L.A. hinter mir.

Mein Reisemonat begann an der Ostküste. Ich reiste alleine, was mir sehr gelegen kam. Das unbesorgte Reisen tat mir unendlich gut. Ich sah die Niagara Fälle, reiste mit dem Bus nach Washington D.C., besuchte eine Freundin in East Hampton und beendete meine Reise in New York. Der Rückflug fiel mir, auch nach all den Strapazen, unendlich schwer, denn Finn war mir sehr ans Herz gewachsen.

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Viele Jahre ist mein Au Pair Aufenthalt mittlerweile her und ich bereue nichts. Hin und wieder habe ich Kontakt mit Carol oder mit Tanya. Finn, so sagt man mir, spreche noch immer von mir und er habe sogar ein Foto von mir in seinem Zimmer hängen.

Wenn ich heute an Carol zurückdenke, dann frage ich mich nach wie vor, wie sie in so einer Situation ihre Medikamente absetzen konnte, da sie für ihren Sohn und mich Verantwortung zu tragen gehabt hätte. Ich habe Verständnis für ihre Krankheit, plane aber nicht Carol je wiederzusehen.

Auch die Agentur hat es versäumt, Verantwortung zu übernehmen oder mir unterstützend zur Seite zu stehen. So konnte ich allerdings alles so machen, wie ich es für richtig hielt, darunter fiel auch die Mutterrolle für Finn zu übernehmen.

Schlussendlich ist vieles nicht so gelaufen, wie das bei einem Auslandsaufenthalt üblich ist und die letzten Endes mein Au Pair Jahr überschattet haben. So einiges konnte ich nicht machen, weil ich Verpflichtungen hatte, aber ich bin dennoch froh, diese Erfahrung gemacht zu haben und möchte auch mit niemandem tauschen.

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Besten Dank an Michael für das Editing und Judith für die Korrektur.

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